DZZ Sonderdruck 2010, M. Stimmelmayr et al.

1. Einleitung Die Versorgung der Extraktionsalveole nach Zahnverlust in der ästhetisch kriti- schen Zone ist eine der größten Heraus- forderungen in der modernen Zahnme- dizin. Mit Hilfe von implantatgetrage- nen Rekonstruktionen kann, wie auch mit zahngetragenen Rekonstruktionen, ein ästhetisch und funktionell langfris- tig zufrieden stellender Zahnersatz er- reicht werden, wobei der chirurgischen und prothetischen Versorgung eine ent- scheidende Rolle zukommt. Da jedoch nach Zahnentfernungen und Zahnver- lusten in den meisten Fällen bukkale Weich- und Hartgewebsresorptionen beobachtet werden [2, 8], ist die Inserti- on von Implantaten in der ästhetischen Zone ein sehr anspruchsvolles und tech- niksensitives Procedere. Zu dünne buk- kale Knochenlamellen führen an den späteren Implantatrekonstruktionen oftmals zu Rezessionen [11, 24], welche im Nachhinein nur sehr schwer kor- rigiert werden können [14]. Wurde frü- her die Heilung der Hart- und Weichge- webe abgewartet und anschließend eine Augmentation durchgeführt, wird heu- te versucht mit der Zahnentfernung den Hart- und Weichgewebedefekt minimal- invasiv zu regenerieren. 2. Wissenschaftliche Grund- lagen der Alveolenheilung Die grundlegenden biologischen Prozes- se einer heilenden Extraktionsalveole wurden erstmals 1969 von Amler [1] an humanen Biopsien untersucht und be- schrieben. Direkt nach Zahnentfernung bildet sich ein Blutkoagulum, welches primär von Granulationsgewebe und nach 8 Wochen von Geflechtknochen ersetzt wird. Auch Cardaropoli [4], der die physiologischen Vorgänge heilender Extraktionsalveolen in einer tierexperi- mentellen Studie an Hunden intensiver untersuchte, beschrieb ebenfalls die Bil- dung eines Blutkoagulums, welches in- nerhalb von sieben Tagen in eine pro- visorische Bindegewebsmatrix umge- wandelt wird. Aus dieser Matrix, die ne- ben kollagenen Fasern und Blutgefäßen auch pluripotente Zellen enthält, entwi- ckelt sich Geflechtknochen, der minera- lisiert. Durch die Abnahme der Minerali- sation im Zentrum der Alveole kommt es wieder zu einer Resorption des Ge- flechtknochens und schließlich zu einer Umwandlung in Knochenmark und la- mellären Knochen. Das Ausmaß dieser Resorption untersuchte Schropp [22] und konnte eine transversale Resorption in- nerhalb von zwölf Monaten um etwa 50 % nachweisen, wobei zwei Drittel der Resorption auf den bukkalen Bereich entfielen. Bereits drei Monate nach der Extraktion verringerte sich die vertikale Knochenhöhe um 1,2 mm. Er stellte fest, dass ein Jahr nach Zahnextraktion die Breite des Alveolarkammes um die Hälfte reduziert war, wobei der Schwer- punkt der Resorption auf der bukkalen Seite lag. Araujo [2] befasste sich mit den Ursachen für diese morphologischen Veränderungen an der inneren knöcher- nen Alveolenwand. Er konnte nachwei- sen, dass der Bündelknochen („bundle bone“), der entwicklungsgeschichtlich dem Zahnhalteapparat angehört, ent- scheidend an den Heilungsvorgängen einer Extraktionsalveole beteiligt ist. Dieser Bündelknochen ist neben lamel- lärem und geflechtartigem Knochen ei- ne dritte Knochenart im Alveolarkno- chen, in den die parodontalen Fasern (Sharpey’sche Fasern) einstrahlen. Bei der Zahnextraktion werden die Shar- pey’schen Fasern ausgerissen und der Bündelknochen büßt seine Funktion ein. In tierexperimentellen Studien konnte festgestellt werden, dass der Bündelknochen vorwiegend in den ers- ten Wochen nach der Zahnextraktion resorbiert wird und die bukkale vertikale Resorption nach acht Wochen 2 mm be- trägt [4, 5]. Da stets ein bestimmter An- teil der inneren Alveolenwand aus Bün- delknochen besteht, können dünne pa- rodontale Biotypen bukkale Lamellen aufweisen, die fast vollständig aus Bün- delknochen zu bestehen scheinen und nach Zahnentfernung vollständig resor- bieren. Demgegenüber ist die Resorpti- onsrate oral geringer, da der orale Anteil des Alveolarknochens stets dicker ist und nur zu geringem Teil aus Bündel- knochen besteht [2, 4, 21]. Es muss da- her bei dünnen parodontalen Biotypen – vor allem mit prominent im Alveolar- knochen stehenden oberen Frontzäh- nen – mit massiven vertikalen und hori- zontalen Resorptionen nach Zahn- extraktion gerechnet werden. Daneben muss bei einer Resorption des bukkalen Knochenanteils auch mit einem Kollaps des Weichgewebes gerechnet werden, da der stützende Anteil des Weichgewebes wegfällt. Überdies kommt es imRahmen der natürlichen Alveolenheilung zu ei- ner Verlagerung der mukogingivalen Grenze und Abflachung der Interdental- papillen über den Defekt [27]. 3. Therapiekonzepte zur Ver- sorgung der Extraktions- alveole Das Ziel der Alveolenheilung aus implan- tologischer Sicht ist die Erhaltung des Hart- und Weichgewebes nach der Zahn- extraktion. Dies ist Voraussetzung für die Schaffung eines idealen Emergenzprofils der implantatgetragenen Restauration im ästhetischen Bereich. Um den Volu- menverlust von Hart- und Weichgewebe zu minimieren, werden in der Literatur unterschiedliche Behandlungskonzepte zur Versorgung von Extraktionsalveolen diskutiert. Hämmerle [12] hat den Zeit- punkt der Implantatinsertion in Relation zum Zeitpunkt der Zahnentfernung defi- niert und in vier Untergruppen eingeteilt (Tab. 1). Diese Einteilung wirft die Frage nach dem idealen Zeitpunkt der Implan- tatversorgung einer Extraktionsalveole in der ästhetischen Zone auf. Verschiede- ne therapeutische Ansätze versuchen die ausgeprägten Gewebeveränderungen ei- ner Extraktionsalveole nach Zahnverlust zu beeinflussen: 3.1 Sofortimplantation (Typ 1) Die Sofortimplantation (Typ 1) findet di- rekt nach Zahnextraktion bei offener Al- veole in der gleichen Sitzung statt. Inwie- fern die sofortige Insertion eines Implan- tates in eine Extraktionsalveole einen knochenprotektiven Effekt hat und den Bündelknochen erhalten, bzw. die Re- sorptions- und Schrumpfungsvorgänge minimieren kann, wird kontrovers disku- tiert [2, 3, 5]. Araujo [2] fand in tierexperi- mentellen Studien heraus, dass bezüglich der bukkalen Knochenlamelle kein Un- terschied zwischen einer unbehandelten Extraktionsalveole und einer Extrakti- onsalveole mit sofortiger Implantation bestand. Es kam bei beiden Gruppen zu starken knöchernen Resorptionen. Der Spalt zwischen bukkaler Knochenlamelle und dem Implantat wird größtenteils durch Resorption der bukkalen Lamelle von extern und nur zu geringem Teil durch Knochenapposition von intern ge- schlossen [3]. Da die Resorptions- und 3 M. Stimmelmayr et al.: Biologie der Alveolenheilung und chirurgische Maßnahmen zum Alveolen- und Kammerhalt Biology of socket healing and surgical procedures for socket and ridge preservation

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